Oberbürgermeister Ullrich Sierau verabschiedet sich und blickt auf seine Amtszeit zurück

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Seit 2009 Oberbürgermeister übergibt Ullrich Sierau zum 1. November das Amt an seinen Nachfolger. Im Interview zieht er ein Resümee seiner Amtszeit und verabschiedet sich mit einer Videobotschaft samt Kulturprogramm von allen Dortmunder*innen und Weggefährt*innen.

Gebürtig aus Halle an der Saale, flüchteten Ullrich Sieraus Eltern mit ihm als Zweijährigen nach Wolfsburg. Dort lebte er, engagierte sich und legte 1974 das Abitur ab. Das Studium der Raumplanung führte ihn nach Dortmund. Nach dem Studienabschluss 1982 und beruflichen Zwischenspielen in Bonn und Düsseldorf, zog es Sierau zurück in „die schönste Stadt der Welt“. Der BVB-Fan wurde im Anschluss an seinen Posten als Direktor am ILS* 1999 Dortmunder Umwelt- und Planungsdezernent, 2007 dann Stadtdirektor. Die Dortmund-Redaktion fragte nach dem Resümee seiner Zeit als Oberbürgermeister, wie er die Arbeit der Kolleg*innen sieht und was er am 1. November, an seinem ersten Tag als ganz „normaler“ Dortmunder, machen wird.

Herr Sierau, Sie und Dortmund – das ist eine innige Liebesgeschichte. Wann wussten Sie, dass Sie hier sesshaft werden wollen?

Ich bin ursprünglich hergekommen, um Raumplanung zu studieren. Ein Freund und ich haben als Studenten eine schöne Wohnung in einer Dogewo-Siedlung erhalten. Wir hatten ein unglaubliches Glück mit der Hausgemeinschaft. Die fragte sich „Hier, zwei Studenten? Machen die auch die Treppe oder feiern sie nur Party?“ Wir haben dann schnell gezeigt, dass wir auch „Treppe machen“. Wir wurden herzlich in der Nachbarschaft aufgenommen. Ein Beispiel: Einmal haben mein Studienkumpel und ich im Garten gearbeitet. Da sagte ein Nachbar: „Jungs, ihr kümmert euch hier. Ihr kriegt erstmal ein paar Pflanzen von uns.“ So habe ich damals gelernt, dass die Dortmunder*innen gastfreundlich und interessiert sind. Das hat mir ein Gefühl von Heimat gegeben. Ich hab mich damals freundlich aufgenommen gefühlt und das ist bis heute so geblieben.

Sie verließen nach dem Studium Dortmund aber noch einmal …

1986 habe ich nach meinem Städtebau-Referendariat einige Jahre in Düsseldorf und Bonn gearbeitet und war froh, als ich gefragt wurde, ob ich das ILS leiten wolle. Die Option wieder zurück nach Dortmund zu können, war für mich ausschlaggebend, diese Position anzunehmen. Ich bekam auch ein Angebot für einen Posten in Berlin. Den habe ich aber zum Glück nicht angenommen, weil ich 1999 zum Dezernenten für Umwelt, Planen und Wohnen gewählt wurde. Meine Frau und ich waren ganz froh, dass wir in Dortmund bleiben konnten. Wir fühlen uns hier pudelwohl. Dortmund ist eine klasse Stadt. Die Leute hier sind unglaublich nett und engagiert.

Sie haben Dortmund unter anderem mit dem Dekadenprojekt „nordwärts“ zu einer Mitmachstadt entwickelt. Warum ist Partizipation aus Ihrer Sicht so wichtig?

Ich habe in Wolfsburg schon als Jugendlicher bei einer Bürgerinitiative zur Umgestaltung des Stadtzentrums mitgemacht. Wir wollten ein selbstverwaltetes Jugendzentrum haben. Der Pfarrer von der Diakonie hat uns angesprochen: „Als Bürger wollen wir unser Anliegen in den Umgestaltungsprozess der Stadt einbringen. Wir wollen keine Initiative gegen etwas sein, sondern für etwas. Wollt ihr mitmachen?“ Mein Freund und ich haben begeistert zugestimmt und sind nach Holland gereist, um moderne Stadtzentren zu besichtigen und holländische Planungskultur kennenzulernen. Das fand ich total spannend! Ich hab damals diese Grundstruktur, sich als Bürger einzubringen, kennengelernt. Als Student engagierte ich mich unter anderem für den Erhalt des Parkhauses Barop und gegen die Umwandlung von Miets- in Eigentumswohnungen – insbesondere im Kreuzviertel. Ich hab das immer als eine Form von Interessenvertretung wahrgenommen, von der eine Stadt lebt. Die Bürger*innen sollen sich einmischen in Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse und ihre Interessen gegenüber Politik und Verwaltung vertreten.

Dieses Engagement machten Sie sich später auch im Beruf zu Nutze.

Ja, diese Erfahrungen habe ich als Planungsdezernent aufgegriffen. Wir haben eine neue Planungskultur aus informeller und formeller Struktur entwickelt. So entstanden etwa Masterpläne als Begleitinstrumente zur Aufstellung des Flächennutzungsplans. Das hat nicht nur dazu geführt, dass wir einen Flächennutzungsplan in dreieinhalb Jahren erarbeitet haben – üblich sind circa sieben Jahre – sondern auch, dass der Plan generell akzeptiert wurde. Wir haben in dem Plan sehr große Flächen bearbeitet und mussten außerdem zu spezifischen Fragen und Themen planen. Der Ansatz war unter anderem „Grau raus, Grün rein“. Wir haben geschaut, was aus alten Industrieflächen entsteht, wo neue Wohnflächen ausgewiesen werden können. Das ist komplex, aber wir haben es geschafft, weil wir die Bürger*innen mit eingebunden haben.

Wie sieht es heute aus?

Mittlerweile ist den meisten in Verwaltung und Politik klar, dass es gut ist, viele Menschen mit ihren Kenntnissen und Interessen an einen Tisch zusammenzubringen – Stichwort Schwarmintelligenz. Bürger*innen kriegen mit, welche Interessen es neben ihren eigenen gibt. Gleichzeitig erfahren sie, wie schwierig es ist, einen Interessenausgleich herzustellen. Das führt zu mehr Akzeptanz im Endergebnis. Mit einem ähnlichen Konzept sind wir das Dekadenprojekt „nordwärts“ angegangen. Es war klar, das Projekt gelingt nur durch Mitwirkung der Bevölkerung. Für Ansatz und Umsetzung haben wir 2017 den europäischen Oscar für Verwaltungen erhalten: Der European Public Sector Award (EPSA) zeichnet innovative Lösungen in der öffentlichen Verwaltung aus. Er war eine Bestätigung für den richtigen Weg, den wir gegangen sind.

Wir haben außerdem eine Ombudsfrau für Bürger*inneninteressen – deutschlandweit eine von ganz wenigen. Damit machen wir deutlich, wie wichtig uns ist, was Bürger*innen denken. Wir möchten als Stadtverwaltung möglichst viele Anregungen und Impulse aufgreifen. Es macht mich froh und stolz, dass wir eine Stadt sind, in der sich Menschen engagieren, ihr Wort machen und sich einbringen – eine gute Grundlage für funktionierendes Gemeinwesen. Populisten haben wenig zu melden. Sie finden hier keinen Anschluss, weil sich die Menschen gut aufgehoben fühlen und solchen Rattenfängern nicht hinterherlaufen.

Dortmund ist eine Stadt des Strukturwandels, den Sie mit vorangetrieben haben. Warum ist er aus Ihrer Sicht geglückt?

Dortmund hat sehr unter dem Strukturwandel gelitten und im Saldo allein zwischen 1980 und 2000 ungefähr 80.000 Arbeitsplätze verloren. Kohle, Stahl und Bier sind weiterhin Thema. Wir haben immer noch Arbeitsplätze, die mit Bergbau zu tun haben, insbesondre im Zuliefererbereich. Dortmunder Gasmessgeräte sind in verschiedenen Branchen im Einsatz. Der Bergbau wirkt nach. Das gilt auch für den Stahl: Wir produzieren ihn nicht mehr, bearbeiten ihn aber. Wir haben zum Beispiel eine Stahlverarbeitung, wo Kugellager für Windkraftanlagen hergestellt werden. Außerdem haben wir eine neue Brauerei, die Bergmannbrauerei, die sehr beliebt ist. Das alles ist Teil unserer Geschichte und auch Teil unserer Zukunft.

Außerdem sind wir ein Hochschul- und Wissenschaftsstandort geworden. An bis zu acht Hochschulen, je nachdem wie man rechnet, gibt es circa 54.000 Studierende. Das hat zusammen mit dem Technologiezentrum dazu geführt, dass wir zu einem Zentrum von Start-ups geworden sind, aus denen sich erfolgreiche Unternehmen entwickeln konnten. Der amerikanische Botschafter John B. Emerson zog 2014 einen interessanten Vergleich und nannte uns „Silicon Dortmund“. Im Digitalbereich sind etwa 20.000 Arbeitsplätze für Dortmund geschaffen worden. Wir wurden als Digitalste Stadt Deutschlands ausgezeichnet.

Es gibt hier hochspannende Arbeitsplätze, zum Beispiel im Bereich der Micro- und Nanotechnologie. Da kommt uns unsere tolle Infrastruktur zu Gute. Auch im Bereich Logistik haben wir einen guten Ruf. Dazu gehören Projekte wie Phoenix Ost mit See. Dafür gab es zu Beginn einige Skepsis. Damals gehörte Mut dazu und westfälische Dickschädeligkeit. Ich bin froh über die mehrheitsfähigen Beschlüsse im Rat und dass wir durchgezogen haben. Das Projekt Phoenix See trug dazu bei, den Glauben in die Leistungsfähigkeit von Politik und Verwaltung zu stärken, genauso an die Zukunft unserer Stadt. Es gab einen Paradigmenwechsel: Heute wird nicht mehr gefragt: „Wird das was?“, sondern „Wann ist das fertig?“ Wir gelten weltweit als Musterfall für gelungenen Strukturwandel.

Wie sehen Sie die Entwicklung der Stadtverwaltung?

Die Stadtverwaltung ist in den letzten Jahren gewachsen. Der Grund ist im Wesentlichen, dass Bund und Länder immer neue Aufgaben formulieren, die wir auf kommunaler Ebene bearbeiten müssen. Als Stadtverwaltung sind wir in der Zwickmühle. Einerseits sollen wir sparen, auch beim Personalbudget, andererseits sollen wir immer komplexere Aufgaben bewältigen und mehr Dienstleistungen erbringen. Sowas geht aber nur, wenn man mehr Leute einstellt. Insofern ist das ein ständiger Drahtseilakt. Durch die Digitalisierung haben wir heute aber auch eine höhere Produktivität. Besonders die jungen Kolleg*innen, die wir eingestellt, ausgebildet und übernommen haben, sind IT-kompatibel und haben wichtige Impulse gesetzt.

Die Verwaltung ist dienstleistungsorientiert, sie berät und wird als Kooperationspartnerin wahrgenommen. Das gilt etwa für die Wirtschaftsförderung. Das gilt auch für die Bauordnung, die Bürgerdienste, das Jugendamt. Sie sind Schnittstellen zur Stadtgesellschaft, an denen schwierige Themen behandelt werden und wo Beschäftigte viel leisten. Natürlich ist nicht alles Gold, was glänzt. Daher wollen wir besonders bei der Digitalisierung besser werden. Es gibt viele, die in den nächsten Jahren altersbedingt aus der Stadtverwaltung ausscheiden. Ich bin ein Beispiel dafür. Wir werden wahrscheinlich nicht die gleiche Anzahl nachrekrutieren können, wir werden also für unsere Dienstleistungen auch auf die digitale Karte setzen.

Was möchten Sie den Beschäftigten zum Abschied mit auf den Weg geben?

Ein dickes Dankeschön! Es gibt ganz viele, hochmotivierte Kolleg*innen, denen die Arbeit eine Herzensangelegenheit ist. Sie geben täglich ihr Bestes und machen einen tollen Job. Wichtig ist: Verwaltung muss zusammenarbeiten. Wir müssen die Schwarmintelligenz nutzen. Nur wer kooperativ ist, ist auch zukunftsfähig. Die Verwaltung ist ständig mit Herausforderungen konfrontiert: Corona, Digitalisierung, neue Gesetze, Haushalt: All das bekommen wir nur gemeinsam hin.

Die Motivation der Beschäftigten zeigte sich gerade unter Coronabedingungen. Das beste Beispiel ist die Personalbörse: Beschäftigte haben sich darüber in einem anderen Fachbereich eingebracht, um die Überlastung abzutragen. Das hat sehr gut geklappt, war kollegial und solidarisch. Einfach toll! Ich hoffe, dass dieser Teamgeist, dieser Einsatz als Dienstleisterin für Bürger*innen da zu sein, sich weiterentwickelt. Natürlich krieg ich auch Post, in der sich Menschen über Probleme beklagen, aber ich kriege auch positive Meldungen wie: „Mir hat eine Kollegin, ein Kollege von Ihnen in der Verwaltung geholfen und mein Problem beseitigt.“ Das finde ich fantastisch. Herzlichen Dank dafür! Sie haben es mir leicht gemacht, Oberbürgermeister zu sein.

Wie werden Sie den 1. November verbringen?

Ich werde mich wahrscheinlich von meinen Abschiedsveranstaltungen erholen (lacht). Deshalb vermute ich, dass ich am 1. November ziemlich lange schlafen werde. Später werde ich mit meiner Frau, meinen Kindern, meinen Enkeln, meinem Bruder und wer sonst Lust hat, einen ausgiebigen Spaziergang machen und danach lecker essen gehen. Anschließend wird es Entspannung geben, vielleicht auch Urlaub. Oberbürgermeister von Dortmund zu sein, ist, wie ich immer schon gesagt habe, besser als Papst, ist aber natürlich auch zeitintensiv. Darunter leiden familiäre Verpflichtungen und Freundschaften, deshalb gibt es für mich einiges nachzuholen und darauf freue ich mich. Außerdem freue ich mich, in der einen oder anderen Bürgerinitiative aktiv zu werden und Projekte, die mir für die Zukunft der Stadt wichtig erscheinen, anzugehen – etwa im Bereich fairer Handel. Ich lasse es auf mich zukommen und freue mich sehr auf die Zeit. Meinen dritten Lebensabschnitt würde ich gerne ausgestalten und genießen. Ich habe nun über 21 Jahre in der Führung der Stadt und Spitze der Verwaltung gearbeitet, eine Zeit, auf die ich zufrieden zurückblicken werde. In diesem Sinne: Herzlichen Dank und Glück auf!

Text: Katharina Kavermann, Gaye Suse Kromer

Bild: Dortmund Agentur/ Soeren Spoo

Das Interview wurde am 4. August 2020 geführt.

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